»Fear the old Blood«
Name: Evangelia Solanine Sexton
Alter: 21
Rasse: Humanoid/Medusa

Geschlecht: weiblich
Aussehen:
Die Lady: Das wohl Auffälligste an Evangelia ist ihre geringe Größe. Schon als Mädchen war sie klein und während ihrer Jugend hörte sie irgendwann einfach mit dem Wachsen auf. Heute misst sie gerade einmal hundertachtundfünfzig Zentimeter, macht diese wenig eindrucksvolle Erscheinung allerdings mit einer kerzengeraden Haltung und scheinbar unendlichen Kontrolle über ihre Bewegungen wett. Ihren feinen, spitzen Gesichtszügen wohnt Kälte inne. Eine angeborene Eleganz liegt in ihrem Kopfneigen, in ihren schmalen Schultern. Auf den ersten Blick mögen ihre Augen gewöhnlich sein. Graublau, vom Lichteinfall abhängig mal mehr die eine, mal mehr die andere Farbe. Hell. Blickt man genauer hin, zu hell, zu scharfsinnig, zu glänzend.
Ganz die junge Dame aus gutem Hause trägt sie ihr rabenschwarzes Haar lang, weiß genau, wie sie es drehen und flechten muss, um ihren Zügen zu schmeicheln. Bei hoher Luftfeuchtigkeit lockt und kräuselt es sich zu ihrem hohen Missfallen. Wer nicht zu genau hinschaut, würde in ihrem Körperbau den einer Balletttänzerin wiedererkennen: geradezu fragil, biegsam. Während sie richtig damit liegen, dass Evangelia ein zartes junges Fräulein sein kann, sehen diese Leute nicht, wie vertraut ihre Muskeln mit dem Schwung einer Waffe oder dem Schwimmen gegen den Strom sind. Verborgen unter ihrer femininen Erscheinung ist sie flink und geschmeidig.
Dennoch ist sie menschlich. Zweifellos menschlich: ihre Finger sind rau, ihre Augen dunkel umschattet, ihr Körper von vielen kleinen Kratzern übersät, ihre Haut weniger prozellanhell als kränkelnd blass, ihre Nägel hier und da angeschlagen, die Lippen immer ein wenig zu schmal.
Das Biest: Diese Gestalt ist jene, mit der sie gerettet und zugleich verflucht wurde. Anders als die meisten Biester ist Evangelias Verwandlung nicht vollständig, aber ebenso schmerzhaft. Ihre Züge werden schärfer, härter, ihre Augen stechender. An ihren Rippen öffnen sich Kiemen. Ihr menschlicher Oberkörper bleibt erhalten, doch von der Taille abwärts verwandelt sich ihr Körper in den einer Leucht- oder auch Feuerqualle. Mitsamt ihrer acht Tentakel misst sie in dieser Gestalt etwa 3,50m. Der Schirm ist von einem durchscheinenden Blauviolett und von langen Nesselfäden gesäumt und strahlt ein ungewöhnliches, regelrecht hypnotisches Leuchten aus, das sich mit steigender Emotion über Evangelias gesamte Erscheinung ziehen und sie förmlich zum Glühen bringen kann.
besondere Merkmale: Evangelia trägt die üblichen Waffen der Jäger bei sich: eine Pistole, geladen mit Blutpatronen, und die ausziehbare Axt ihres Vaters.
Weniger auffällig für erfahrene Kämpfer sind wohl ihre ausgesprochen kleinen Hände und die vielen kleinen Einstichstellen, die besonders an ihrem rechten Bein verteilt sind.
Gut verborgen durch die meiste Kleidung sind die tiefen, ovalen Narben, die sich an ihren Rippen befinden, drei je Seite, schlecht abgeheilt.

»A bottomless curse, a bottomless sea. Source of all greatness, all things that be«
Charakter:
Evangelias Mutter erzog sie wie eine Tochter des Adels: Zu Anstand, Anmut, Geduld und Charme. Sie ist sittsam und bedacht, einnehmend und mit einem – oberflächlichen – Auge für schöne Dinge gesegnet. Was sie tut, geschieht mit einer nonchalanten Art von Eleganz, einem Selbstbewusstsein, in dem von Zeit zu Zeit auch eine Prise Hochmut mitschwingen kann. In ihrem Leben gab es wenige große Zusammenkünfte, wenig gute Gesellschaft, an der sie ernsthafte Freude verspüren konnte. Das machte jene seltenen Gelegenheiten umso wertvoller. Evangelia geniest die Aufmerksamkeit anderer geradezu und langweilt sich schnell, sollte man ihr Interesse zu lange strapazieren. In aller Ehrlichkeit akzeptiert sie nicht viele in ihrem Vertrautenkreis, braucht Zeit, um sich völlig auf Personen einzulassen und ihnen mit etwas anderem als kühler Höflichkeit zu begegnen.
Ob allein oder im Beisein anderer, Evangelia liebt es, kreativ zu sein. Sei es ein neues Gedicht, die Musik oder das Lernen von komplexen Tanzschritten, auf die eine oder andere Weise bringt sie sich jederzeit zum Ausdruck. Ist ihr Körper nicht in Bewegung, muss es ihr Geist sein und gleiches gilt andersherum. Mehr als jeder menschliche Kontakt liegt ihr die Kunst am Herzen und erinnert sie daran, was Lebendigsein bedeutet.
Doch auch die zartbesaitete Tänzerin, das feine, etwas sensible, aber liebreizende Fräulein, hat seine Schattenseiten. Genau genommen ist sie in vielen Dingen weder zartbesaitet noch liebreizend: Evangelia hatte nicht nur ihre Mutter, die ihr Benehmen und Würde eintrichterte, sondern auch ihren Vater, der seine Tochter lehrte, scharfsinnig und unnachgiebig zu sein. Der ihren Eigenwillen und ihr Misstrauen gegenüber Unbekanntem antrieb und damit ihr Überleben sicherte. Sie würde nicht zögern, zu tun, was nötig ist, um nicht zu sterben, geschweige denn, ihrem Fluch zum Opfer zu fallen.
Was man ihr nie austreiben konnte, waren ihre spitze Zunge und Sensibilität. Evangelia ist schrecklich nachtragend und kann jegliche Form der einfühlsamen Dame ablegen, sollte man ihren unendlichen Geduldsfaden reißen lassen und ihre so clever verborgenen Gefühle verletzen.
Jedoch ist es heute dieser Geduldsfaden, ihre Beherrschtheit und Distanz von Gefühlen jeder Art, die sie noch zusammenhalten und davon abhalten, sich vollständig dem Biestfluch hinzugeben, der ihr jegliche Form von menschlichem Bewusstsein nimmt und sie rein emotionsgesteuert handeln lässt.

Stärken/Schwächen:
+ Eloquenz – Seit sie denken kann, hat Evangelia ein Talent für das Schreiben von Gedichten und ein entsprechendes Vokabular entwickelt.
+ Ausgesprochenes Rhythmusgefühl dank jahrelangem Tanz- und Geigenunterricht
+ Training im Umgang mit (Schuss-)Waffen und Kampfsituationen und dadurch erlernte Wendigkeit
+ in menschlicher und Biestform eine ausgesprochen gute Schwimmerin
+ sehr geduldig
+ beherrscht die Grundlagen von erster Hilfe
+ Temperaturen – Evangelia ist an die eisigen Temperaturen ihres Unterseeheims gewöhnt und entsprechend resistent gegen Kälte
- Blut – Gleichermaßen anziehend und abstoßend für ihre beiden Hälften ist Blut das, was Evangelias inneres Biest weckt. Sein Geruch setzt ihren Verstand aus und bringt ihre Instinkte zum Vorschein, ihren Hunger
- Kontrolle und Verwandlung – Evangelias Menschlichkeit ist konstant im Kampf mit der Biestpest, die sie am Leben hält. Keine ihrer beiden Gestalten kann lange ohne die andere existieren, sodass Evangelia maximal drei Tage in einer von beiden bestehen kann ohne ernsthafte Schäden davonzutragen. Jene Verwandlung ist ausgesprochen schmerzhaft und verlangt ihr viel Kraft ab.
- Wasser – In ihrer Biestgestalt benötigt sie ein Gewässer, das ihrer Quallenhälfte das Atmen ermöglicht.
- Isolation – In den vergangenen drei Jahren war Evangelia allein mit Ungeheuern und Meereslebewesen. Während sie sich nach menschlicher Nähe sehnt, ist sie ihr unweigerlich entwachsen.
- Unglaublich nachtragend, stur und misstrauisch
- Fixierungen (Mit heutigem Vokabular als Zwangsstörung bezeichnet) – Evangelia hat eine schreckliche Tendenz zu penibler Sauberkeit, Symmetrie und Ordnung. Selbst, wenn es sich dabei um das Eigentum anderer handelt, kann sie nicht anders, als Dinge, die nicht diesem Bild entsprechen, zu richten.

Vorlieben/Abneigungen/Wünsche/Ängste:
In Gévaudan herrscht – neben vielen anderen Weisheiten – der Glaube vor, dass Mensch und Biest sich im Inneren nur durch ihre Tradition unterscheiden. So ist es kein Wunder, dass Evangelia, nach eben diesen Prinzipien erzogen, einen hohen Wert auf Benehmen und Manieren legt. Seit ihrer Kindheit liebt sie das Meer, seine Geheimnisse und Tiefen, alles, was darin lebt. Daran konnten auch die vielen Schicksalsschläge in ihrem Leben nichts ändern. An manchen Tage glaubt sie sogar, es flüstern zu hören. Wie alles in ihrem Leben hat ihre Mutter auch ihre Liebe für Schönes und Wertvolles beeinflusst. Als Tochter einer Adeligen in einfachen Verhältnissen konnte sie ihre Bewunderung für edle Stoffe oder fein gearbeiteten Schmuck nie ablegen. Ebenso liebt sie die Kunst – das Tanzen, Geige spielen und Gedichte schreiben, mit denen sie so viel Zeit ihres einsamen Lebens verbrachte.
Langeweile und Untätigkeit sind ihr zuwider, noch mehr hasst sie Unordnung und Dreck. Für solche, die sie nicht als ebenbürtig anerkennt, hat sie nur wenig echte Freundlichkeit übrig. Mehr als all diese Kleinigkeiten hasst Evangelia allerdings ihre Quallengestalt, die mit so viel Gefahr und Schmerz verbunden ist, sie aus der Zivilisation verbannt und zu einer wandelnden Waffe gemacht hat.
Sie hat ihre alten Ängste mit neuen ersetzt: Der Furcht, die Kontrolle zu verlieren, entdeckt und verstoßen zu werden, für immer allein zu sein. Sie hat ihr die Möglichkeit genommen, ihr Leben dem Schreiben zu widmen. Von ganzem Herzen sehnt Evangelia sich danach, die Biestpest loszuwerden, die Vergangenheit wiederherzustellen und rein von der grauenhaften Plage in ihrem Blut zu werden. Ihre Wünsche sind einfach, menschlich. Gesellschaft, Achtung, einen Sinn im Leben.

Fähigkeiten:
Erlernt/Menschlich
- Geige spielen
- Klassischer Tanz
- Gedichte schreiben
- Haushalten (nicht Kochen)
- Umgang mit den Waffen der Jagd – spezifisch denen, die auch ihr Vater verwendete, eine Schusswaffe sowie eine ausziehbare Axt
Erhalten/Biestgaben
- Biestinstinkte – Evangelias Sinne in ihrer Medusenform sind bedeutend feiner als die eines Menschen, sodass sie nicht nur potenzielle Beute durch Schwingungen wahrnehmen, sondern auch ihr Blut aus weiterer Entfernung riechen kann. Ausschließlich daraus ausgelegt, zu töten und zu verschlingen, ist ihr Körper schneller, empfindsamer.
- Anpassung und Atmung – ein Geschenk ihrer Schutzherrin Kosm, das Evangelia erlaubt, sowohl im Süß- als auch Salzwasser zu überleben. Ihr Quallen- und Menschenkörper atmen unterschiedlich, der eine über seine Oberfläche, der andere über Kiemen.
- Biolumineszenz – Wie alle Medusen strahlt Evangelia unter Wasser ein sanftes Leuchten aus, das ihr erlaubt, auch in tieferen Gefilden zu sehen und dazu dient, andere anzulocken.
- Kommunikation mit Wasserlebewesen
- Quallenstiche – Das Gift der Feuerqualle wirkt bei Kontakt mit menschlicher Haut reizend und löst Hautausschläge, Jucken und, bei einer derart hohen Dosierung wie Evangelia sie für gewöhnlich abgibt, Kopfschmerzen und Übelkeit aus.
Ausgesetzt
- Kontrolle über Wasserlebewesen
- Blutheilung – Das alte Blut der heilenden Kirche, welches in Evangelias Heimat Gang und Gebe war, existiert in dieser Welt nicht.

»Every Great One loses its child, and then yearns for a surrogate«
Familie:
- Pater Guiscard: Evangelias Vater, einst ein talentierter Jäger der Kirche der Heilung, +
- Lady Violeta del Mar: Evangelias Mutter, eine verarmte Adelige, die eines Tages am Strand von Gévaudan erschien, +
Vorgeschichte:
Evangelia wurde als gewöhnlicher Mensch in einer ungewöhnlichen Stadt geboren. Ihre Heimat, Gévaudan, war einst ein unbedeutendes Fischerörtchen gewesen, bis die Heilende Kirche in den naheglegenen Meereshöhlen ein Wundermittel fand, das Alte Blut genannt, das jeden Schmerz linderte, jede Wunde schloss und jede Sorge beseitigte. Eben jenes Blut trieb viele Jahre vor ihrer Geburt Evangelias Vater Guiscard, einen reisenden Priester, in die Stadt. Wie alle vor ihm wurde er geheilt und wie alle vor ihm arbeitete er seine Schuld als Jäger der Kirche ab, der die verlorenen Bewohner Gévaudans von ihrem Leid erlöste, Nacht um Nacht tötete und dank des alten Blutes überlebte. Denn die nun berüchtigte, immerzu wachsende und ewig misstrauische Stadt war von einer neuen Plage heimgesucht: Eine unbekannte Krankheit, die die Männer der Stadt bei Mondaufgang in Wahn versetzte, bis sie zu brutalen, blutgierigen Ungeheuern wurden, innerlich wie äußerlich. Erst, als er seine Frau Lady Violeta heiratete und seine Tochter zur Welt kam, legte Guiscard seinen tödlichen Beruf nieder, sehr zum Missfallen der Kirche. Die kleine Familie bezog ein Häuschen am Stadtrand, wo sie jederzeit das Geräusch der Wellen hören konnten und fernab von Schutzeinrichtungen lebten.
Evangelia wuchs umgeben von Tod und Paranoia auf. Früh lernte sie, in dauernder Furcht zu leben, niemandem zu trauen, am wenigsten ihren Mitbürgern. Sie begegnete ihnen mit derselben Abneigung, mit der man ihrer Familie begegnete. Anstatt Ansehen, brachte man ihrem Vater Verachtung entgegen, weil er sein eigen Fleisch und Blut über das Wohl aller stellte. Ihre Mutter wiederum war eine Fremde, eine Frau von Außerhalb, die sich zu viel auf ihren Titel einbildete und seltsame Dinge vor sich hinmurmelte. Eine starrsinnige Hexe, die ihre Familie regelmäßig an die gefährlichen Küsten scheuchte und Stunden am Wasser stand, ohne ein Wort zu sagen.
Nichtsdestotrotz erzog sie Evangelia mit eiserner Faust. Niemals sprach sie von ihrer eigenen Familie oder dem Adelshaus, dem sie angeblich angehörte, doch sie bestand darauf, ihre Tochter in Etikette, Geschichte und Musik zu unterrichten. Und Evangelia war eine gute Tochter, stets gehorsam und sittsam, nie nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen. Als ihr Vater ihr zu ihrem elften Geburtstag eine Geige baute, spielte sie täglich. Mit fünfzehn rettete sie ihre liebsten Gedichtbände aus der Bibliothek. Als die private Tanzschule, in der sie jahrelang gelernt hatte, zerstört wurde, übte sie allein vor dem Spiegel. Wann immer ihre Mutter sie mit ans Meer nahm, genoss sie den Wind, das Wasser, das Sammeln seltener Muscheln. Schon als kleines Mädchen hatte sie seinen seltsamen Sog verspürt und eine Sehnsucht verspürt, die einzig Violeta verstand und ebenso totschwieg.
Doch auch Guiscard war nicht untätig in der Erziehung seiner Tochter. Obwohl seine Zeit als Jäger ihm schwer zugesetzt hatte und er ohne das alte Blut zu kränkeln begann, war er entschlossen, Evangelia alles beizubringen, was sie zur Verteidigung brauchte. So kam es, dass sie den Vormittag mit Studien und standesgemäßen Beschäftigungen verbrachte, um nachmittags über den Umgang mit Jagdwaffen zu lernen.
Als Evangelia vierzehn war, hatte der Zustand ihres Vaters sich so sehr verschlechtert, dass er auf erneute Blutbehandlung angewiesen war und sich bereiterklärte, zur Jagd zurückzukehren. Fortan harrten sie und ihre Mutter im Dunkeln aus, warteten auf die ersten Sonnenstrahlen und seine Rückkehr, hofften, dass der Blutrausch ihn loslassen würde. Des Öfteren verließ nun auch Evangelias Mutter das Haus in der Dämmerung, suchte Guiscard und brachte seine Menschlichkeit zurück. Auf den ersten Blick waren sie nach wie vor in ihrer winzigen Welt glücklich – nur ein genauerer Einblick hätte preisgegeben, wie die Jagd ihre Klauen in alle drei schlug und sie von innen zersetzte.
Jahre zogen dahin und auf wundersame Weise überlebte ihr Vater lang genug, um Evangelias achtzehnten Geburtstag mitanzusehen. Zu diesem Zeitpunkt ließ sie sich bereits eine ganze Weile den Hof von Mikolaj Starek, dem Sohn eines Jagdpartners ihres Vaters, machen und nutzte ihre Zeit lieber zum Schreiben verträumter Liebesgedichte als sich mit dem Training ihres ohnehin erschöpften und launischen Vaters zu befassen. Zur Feier des Tages hatten Mutter und Tochter die Nacht im Hause Starek verbracht und ihre Sorgen beiseitegeschoben. Als Lady Violeta an diesem Morgen aufbrach, um ihren Mann zurückzubringen, wartete das Paar auf die beiden – vergeblich.
Entgegen dem Drängen Mikolajs und seines Vaters kehrte Evangelia allein zu ihrem Elternhaus zurück, davon überzeugt, dass es sich lediglich um ein Missverständnis handeln musste. In ihrer Straße angekommen, fand sie ein zerstörtes Haus vor sowie eine entstellte Leiche, an der sich gerade das Wesen gütlich tat, das einmal ihr Vater gewesen war. Pater Guiscard hatte den Kampf gegen die Biestpest verloren und sich dem Verlangen nach Blut gebeugt. Und hier, vor ihm, stand ein blutjunges, geschocktes Opfer.
Evangelia tat das Einzige, was Menschen in dieser Lage tun konnten. Sie rannte um ihr Leben, verfolgt von aufgeschreckten Biestern, die dem Ruf eines Stärkeren folgten, bis zum Stadtrand und darüber hinaus und einen schmalen Pfad am Klippenrand entlang. Sie hoffte, die Ungeheuer auf diesem Weg abzuschütteln – vergeblich. Als eines von ihnen ihr überraschend nahekam, rutschte sie aus und stürzte geradewegs ins Meer unter ihr.
Unter allen Umständen hätte das ihr Tod sein sollen. Doch etwas an Evangelia – vielleicht das Talent ihres Vaters, vielleicht etwas im Blut ihrer mysteriösen Mutter – hatte die Aufmerksamkeit eines höheren Wesens erregt, das in jenen Gefilden des Meeres wandelte; Kosm, eine der »Großartigen«, die von der Heilenden Kirche verehrt und studiert worden war. Und wie jedes dieser surrealen und abstrakten Wesen sehnte Kosm sich nach einem Menschenkind. Als Evangelia drohte, zu ertrinken, veränderte Kosm sie. Sie gab ihr einen Körper, der unter Wasser atmen und leben konnte. Der Preis allerdings war hoch. Was Kosm getan hatte, war, die Biestpest in Evangelias Blut zu wecken und ihrem eigenen Verstand entgegenzusetzen. Sie war gefangen in diesem Zwischenstadium, nicht ganz Ungeheuer, nicht ganz Mensch, und würde eines das andere übertrumpfen, wäre sie verloren.
Jahre verstrichen, in denen Evangelia auf diesem gefährlichen Grad balancierte. Sie verbrachte einen Großteil der Tage im Meer und erkannte zu ihrem Entsetzen, dass die Ungeheuer sie nicht angriffen, sondern als eine von ihnen ansahen. Nicht nur das, manche von ihnen gehorchten ihr sogar, scheuten zurück, wenn ihr Temperament mit ihr durchging. Evangelia hasste sich selbst dafür, aber eine andere Wahl, als ihre Unterstützung zu akzeptieren, hatte sie nicht. Erst nach mehreren Monaten wagte sie es, wieder an Land zu kommen und ihre Biestgestalt abzulegen, nachdem sie fast den Verstand verloren hätte. Zögerlich schlich sie sich nach Gévaudan zurück und fortan war es wie ein Ritual, zwischen ihren Gestalten zu wechseln, um zu überleben und bei Verstand zu bleiben.
Jahre zogen so dahin, in denen die Ungeheuer mächtiger wurden. Evangelias Herz brach, als sie erfuhr, dass Mikolajs Vater der Plage zum Opfer gefallen war und seine Kinder die Nacht nicht überlebt hatten. Gerüchte zogen durch die Stadt, über ein gewaltiges Ungeheuer in den Tiefen des Meeres, aber auch über den verlorenen Jäger Guiscard, der noch immer durch die Stadtviertel streifte und dessen legendäre Waffen bald zu einem Ziel unerfahrener und ehrgeiziger Jäger wurden.
Als Evangelia davon hörte, regte sich ihr altbekannter Stolz. Ihr Vater mochte nicht mehr sein, doch die Vorstellung, seinen Besitz, ihr rechtmäßiges Erbe, in den Händen eines einfältigen jungen Jägers zu sehen, war eine Schande. So verließ sie in dieser Nacht das Meer und marschierte schnurstracks in die verfallene und verlassene Straße, in der sie aufgewachsen war. Niemand lebte mehr hier, trieb sich doch ein schreckliches Biest in diesen Gassen herum und vertilgte alle, die ihm ins Auge fielen. Evangelia zögerte nicht. Sie suchte in den eingestürzten Überresten ihres Elternhauses, suchte und suchte – und wurde fündig. Doch kaum, hatte sie die Pistole und die Axt an sich genommen, hörte sie das Kreischen. Ihr Vater hatte sie gefunden und diesmal rettete Kosm sie nicht.